Buchkritik

Christine Haug und Stephanie Jacobs (Hg.) – Zwischen Zeilen und Zeiten

Stand

Von Autor/in Holger Heimann

Ein Buch zum 200. Geburtstags des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – das klingt staubtrocken. Aber „Zwischen Zeilen und Zeiten“ versammelt eine ganze Reihe schräger Anekdoten und verheerender Einblicke – und erzählt „eine andere Geschichte“. Ein überraschendes und spannendes Buch.

Zu den Büchern, die von den Nazis 1933 ins Feuer geworfen wurden, gehörte auch Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Der 1929 erschienene Antikriegsroman, der sofort zum internationalen Bestseller avancierte, war in Deutschland nach dem Verbot nicht mehr zu haben.

Und doch wurde der Roman schon im März 1945 – als nahezu alles in Schutt und Asche lag – in großer Zahl wieder ausgeliefert. Was wie ein Wunder anmutet, lässt sich recht einfach erklären – und führt zurück ins Jahr 1933.

Der Ullstein Verlag lagerte noch eine Charge mit 120.000 Exemplaren, und der Verleger entschied sich, diese heimlich außerhalb Berlins einzulagern. Eile war geboten, weil bereits ein Jahr später die absehbare Enteignung der jüdischen Verlagsinhaber erfolgte. 

Ruchlose Ware

Die heimlich zur Seite geschafften Exemplare überstanden den Krieg unbeschadet und konnten gleich nach Kriegsende verkauft werden. Lernen lässt sich dies aus einem Buch, das jetzt anlässlich des zweihundertsten Geburtstags des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erschienen ist und das voller spannender Geschichten steckt.

Es ist nicht das erste Werk, das sich mit dem ältesten Wirtschaftsverband Deutschlands befasst. Zum 175. Geburtstag kam eine schwergewichtige, leinengebundene Festschrift heraus. Von dieser klassischen Institutionengeschichte sollte sich das neue Buch abheben, erklärt Mitherausgeberin Stephanie Jacobs:

„Uns war es wichtig, eine andere Geschichte zu erzählen, indem wir nicht schwergewichtige wissenschaftliche Großaufsätze veröffentlicht haben, sondern versucht haben in 216 kleinen Miszellen, kleinen Anekdoten skurrile, manchmal schräge, manchmal auch verheerende Einblicke in diese zweihundert Jahre zu bringen."

Knapp siebzig Autoren führen in chronologischer Ordnung durch mehr als zweihundert Jahre. Denn die kurzweilige „andere Geschichte des Börsenvereins“ beginnt nicht erst 1825, sondern bereits im Jahr 1765. Da nämlich gründete sich eine erste Buchhandlungsgesellschaft, ein Börsenverein avant la lettre, mit dem Ziel, illegale Nachdrucke zu verhindern.

Rigoros ging der Verband danach nicht nur gegen Raubkopien, sondern auch gegen die „Verbreitung ruchloser Ware“ vor. Der Buchhändler Friedrich Perthes stiftete 1827 „im Namen der Sittlichkeit“ gar zur Bücherverbrennung an.

Das archaische Ritual der Bücherverbrennung wurde im 19. Jahrhundert von den Behörden nicht mehr angewandt. Verbotene Bücher wurden eher eingestampft als verbrannt. Einzelne Parteien und Gruppen jedoch übten die alte Praxis nach eigenem Recht weiter aus.

Leseboom an den Fronten

Der Erste Weltkrieg führte überraschend zu einem Leseboom an den Fronten, doch nicht dazu, dass die Qualität des Lesestoffs zunahm. „Vom Besten fast gar nichts, vom Guten wenig und vom Schlechten viel“, klagte ein Zeitgenosse über das Angebot. Eine Reihe von Kurzessays beleuchtet schließlich ausführlich die Rolle des Börsenvereins während der Nazidiktatur, es ist keine ruhmreiche Rolle, weiß Jacobs:

„Wir können in ganz vielen kleineren Geschichten zeigen, wie verheerend die Bereitschaft war, sich dienend an den Nationalsozialismus anzuschließen. Bis zur Beteiligung an Bücherverbrennungen, bis zu dem Verbot tatsächlich.

Einzelne jüdische Autoren – und zwar sehr früh schon, mit Feuchtwanger haben wir ein Beispiel, – nicht mehr verlegen zu dürfen und tatsächlich auch Anzeigen zu schalten, die davor warnen, dass die Buchhändler einen Fehltritt tun."

Zum Tag der Befreiung Zeugnis von der Vernichtung ablegen: Jiddische Dichter im Kampf gegen das Vergessen

Zum 80. Jahrestag der Befreiung erinnern wir an jiddische Dichter, die sich in Worten dem Grauen entgegensetzten. Ihre Dichtung wurde zum letzten Mittel gegen das Vergessen.

Der Börsenverein hat sich von Beginn an als Vertreter wirtschaftlicher und kultureller Interessen verstanden. „Eine andere Geschichte des Börsenvereins“ bildet genau diese spezielle Verbindung präzise ab. Verfolgen lässt sich anhand des reich bebilderten und schön gestalteten Geburtstagsbuchs, wie einmal stärker wirtschaftliche und ein andermal kulturelle Themen in den Vordergrund rückten.

„Zuerst war es ein ganz klarer Wirtschaftsverband. Wenn wir dann an die Geschichte der Urheberrechte denken, dann ist es plötzlich so geworden, dass die Frage nach der Verfügbarkeit von Wissen, von urheberrechtsbewehrtem Wissen eine ganz große Rolle spielt. Ein ganz moderner Gedanke der Zugänglichkeit von Wissen für eine große Menge.

Heutzutage ist wieder ein Zungenschlag in den Börsenverein gekommen, der ganz klar kulturell geprägt ist. Und auch kulturell geprägt ist in Bezug auf die Verantwortung der Bücherverleger und Buchhändler, in Bezug auf gesellschaftliche, auch durchaus weltweit gesellschaftliche Fragestellungen, in dem sowas wie Meinungsfreiheit und Zensur wieder ins Zentrum gestellt wird."

Interessierte Leser müssen „Zwischen Zeilen und Zeiten“ nicht von vorn bis hinten durchackern, sondern können einfach irgendwo anfangen zu lesen.

Die einen werden bei der Zensur in der DDR  hängenbleiben, andere bei dem Verleger, der als Spion für den KGB tätig war, und wieder andere beim ersten Frauenbuchladen, dessen Gründerinnen 1975 mit der Devise angetreten sind: „außer Männern haben wir nichts zu verlieren“. Ein Buch mithin, mit dem den Herausgeberinnen gelingt, was sie sich vorgenommen haben: „die Verlags- und Buchhandelsgeschichte aus der Ecke der Spezialwissenschaften (zu) locken“.

lesenswert Magazin Welt im Wachkoma: Neue Bücher von Nell Zink, Oliver Maria Schmitt, Michi Strausfeld, Alejandro Zambra - und ein wichtiger Geburtstag 

Neue Romane und Sachbücher und der Börsenvereins des deutschen Buchhandels feiert in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag - ein Blick in seine Vergangenheit und Zukunft.

lesenswert Magazin SWR Kultur

Buchkritik Oliver Maria Schmitt – KomaSee

Der neue Roman von Oliver Maria Schmitt spielt am schönen Comer See inmitten der Reichen, Möchtegern-Reichen und Ruhmsüchtigen, birgt familiäre Verwicklungen, verfahrene Liebeskonstellation und kriminalistische Geheimnisse und firmiert dazu noch unter dem kalauernden Titel „KomaSee“. Was will man mehr!?
Rezension von Ulrich Rüdenauer

lesenswert Magazin SWR Kultur

Buchkritik Ein leichtes Fiebergefühl beim Lesen: Nell Zinks „Sister Europe“

Eine illustre Schar, die sich im Umfeld einer Literaturpreis-Verleihung zusammenfindet und eine ganz besondere Nacht erlebt. Beate Tröger hat „Sister Europe“ gelesen.

lesenswert Magazin SWR Kultur

Stand
Autor/in
Holger Heimann