Freude des Lobs: Jutta Person, Nicola Steiner und Christoph Schröder diskutierten im gut besuchten Künstlerhaus Edenkoben vier Werke, die auf die vorderen Plätze der SWR Bestenliste im Juni gewählt worden sind. Auf dem Programm standen: Urszula Honeks Prosadebüt „Die weißen Nächte“, Ralf Rothmanns Erzählband „Museum der Einsamkeit“, der Roman „Frühlingsnacht“ von Tarjei Vesaas und Nell Zinks Roman „Sister Europe“.
Selten war die Stimmung der Jury-Runde so heiter, selbst wenn oder gerade weil die besprochenen Texte oft vom Sterben handeln. In Urszula Honeks „Die weißen Nächte“ (Suhrkamp) lauert der Tod an jeder Ecke. Die polnische Autorin, die vor allem als Lyrikerin bekannt ist, lässt in ihrem Prosadebüt dreizehn Einzelgeschichten in einem Dorf am Rand der Beskiden spielen und verwebt sie zu einem Romanmosaik, in dem Zeiten, Epochen und Figurenperspektiven ständig wechseln. Schwebende Prosa, urteilte die Jury, ein Buch als literarisches Versprechen.
Auch im Dissens wird an diesem Abend viel gelacht. Worin zeigen sich die literarischen Stärken der neuen Erzählungen von Ralf Rothmann? „Das Museum der Einsamkeit“ (Suhrkamp) beschreibt existentielle Krisen in Lebensläufen und die Suche der Figuren nach verlorener Würde. Ist die Prosa in den Passagen mit 50er-Jahre-Patina „überorchestriert“, wie Jutta Person meint, oder sind gerade die Geschichten aus dem Arbeitermilieu der alten Bundesrepublik authentisch und lebensnah, wie Nicola Steiner argumentiert? Die scharfe Kritik, die der beim Publikum beliebte Schriftsteller zuweilen im Feuilleton einstecken muss, erklärt sich Christoph Schröder mit der Verachtung der bildungsbürgerlichen Elite gegenüber einer nichtakademischen Literaturposition.
So düster wie skurril ist auch die Handlung im Roman „Frühlingsnacht“ des norwegischen Autors Tarjei Vesaas, den die Jury unisono als Meisterwerk feierte. Ein Geschwisterpaar ist zum ersten Mal allein daheim, die Eltern sind über Nacht verreist. Plötzlich steht eine Gruppe fremder Leute vor der Tür und bittet um Einlass. Ein Kind wird geboren, ein Mensch stirbt und ein Junge wird erwachsen. Ein zeitlos schönes Buch, hieß es in der Diskussion.
Hochaktuell ist hingegen Nell Zinks dialogschnelle Satire auf Identitätsdebatten und den hiesigen Kulturbetrieb. „Sister Europe“ schildert eine Zufallsgemeinschaft in Berlin, die eine Literaturpreisverleihung besucht, parlierend durch die Hauptstadt zieht und schließlich in einem modernistischen, nahezu sprichwörtlichen Glashaus landet. Aber tritt das brillante Diskurstheater in der Mitte des Romans auf der Stelle, wie Christoph Schröder meint? Jutta Person und Nicola Steiner verweisen auf die gewitzte Verschränkung von Hochkultur und Trash, die sich zu einer Feier der Narration entwickeln würde, in der es immer neue Erzählschichten und Verweise zu entdecken gelte.
Aus den vier Büchern lasen Antje Keil und Johannes Wördemann. Durch den Abend führte Carsten Otte.
Über diese Bücher wurde diskutiert:
Literatur SWR Bestenliste Juni
Die SWR Bestenliste empfiehlt seit 50 Jahren verlässlich monatlich zehn lesenswerte Bücher, unabhängig von Bestsellerlisten. Nicht die Bücher, die am häufigsten verkauft werden, bestimmen die Liste, sondern eine Jury, bestehend aus 30 namhaften LiteraturkritikerInnen, wählt die Bücher aus, denen sie möglichst viele LeserInnen wünscht.