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Ein großer Wurf: „Philosophie der Musik“ von Christoph Türcke

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Von Autor/in Rafael Rennicke

Nachdenken über Musik hat Tradition: Auch Philosophen versuchten immer wieder, das Wesen der Musik zu ergründen. Unter ihnen ist auch der emeritierte Leipziger Philosophie-Professor Christoph Türcke. Nach einer „Philosophie des Traums“ und einer „Philosophie des Geldes“ ist ihm mit einer „Philosophie der Musik“ ein großer Wurf gelungen.

Selbst die schönste Musik kann nichts tun gegen ihre eigene Vergänglichkeit. Kaum, dass die Töne da sind, sind sie verklungen. Eben noch Gegenwart, ist der musikalische Ton schon wieder Vergangenheit.

Viele Philosophen haben sich diesem geheimnisvollen Wesen der Musik angenommen. Christoph Türcke aber geht in seiner „Philosophie der Musik“ noch einen Schritt weiter. Er zeigt eindrucksvoll: Nicht nur die Musik an sich, sondern auch musikalische Kunstwerke, führen ungezählte Vergangenheiten mit sich:

Wo die Musik ganz Gegenwart ist, ist sie nicht nur ganz Gegenwart. Wo immer sie Unerhörtes erklingen lässt, schwingt auch Nicht-mehr-Hörbares und Verstummtes mit.

Prinzessinnengehör statt Erbsenzählerei

Dafür seien alle großen Komponisten der Neuzeit empfänglich geblieben, so Türcke, und zieht Vergleiche zu einer Figur des berühmten dänischen Märchendichters: „Wie Hans Christian Andersens Märchenfrau, die durch all die Matratzen hindurch, auf deren oberster ihr das Nachtlager bereitet wurde, dennoch die kleine Erbse spürte; nur dass da etwas war, was sich durch alle Dämpfungen hindurch mitteilte. Das war der Test, der sie als ‚echte‘ Prinzessin erwies.“

Schöner hätte der Autor sein eigenes Vorhaben kaum in Worte fassen können. Wo manche Musik-Geschichtsschreiber nur Erbsen zählen oder versucht sind, die Prinzessin auf den Boden der Tatsachen zu holen, da geht Christoph Türcke ganz weit zurück.

Er horcht wie mit einem Prinzessinnengehör tief hinab zum Ursprung der Musik, tief hinein in die Ur-Geschichte des Menschen. Nicht umsonst nennt er sein Vorhaben eine „musikarchäologische Expedition“. Und er zeigt dabei, wie in musikalischen Kunstwerken archaische Grundstrukturen und uralte mentalitätsgeschichtliche Traditionen fortwirken.

Carol Burnett als Prinzessin auf der Erbse neben Ken Berry als Prinz im Musical "Once Upon a Mattress" (1972)
Musikalische Kunstwerke führen ungezählte Vergangenheiten mit sich, so Türcke und wagt einen Vergleich mit Andersens „Prinzessin auf der Erbse“ - hier dargestellt von Carol Burnett (links) im Musical „Once Upon a Mattress“ (1972) von Mary Rodgers.

Warum klingt der Doppelschlag bei Mahler nicht banal?

Zum Beispiel bei Gustav Mahler. Da stößt uns Christoph Türcke auf eine an sich ganz lapidare Verzierungsfigur, den Doppelschlag: vier Töne, die einen Grundton umkreisen . Etwa im „Lied von der Erde“, aus Mahlers Spätwerk:

„Warum klingt der simple Doppelschlag bei Mahler nicht banal? Warum mutet er an wie eine archaische rituelle Formel, die ‚von weit, weit her‘ kommt und den Komponisten lediglich zu ihrem Mundstück erwählt hat?“, fragt Türcke.

Gustav Mahler - Das Lied von der Erde | Klaus Florian Vogt | Karen Cargill | WDR Sinfonieorchester

Er kommt zu folgendem Schluss: „Offenbar weil diese simple Figur […] tatsächlich Ältestes chiffriert: den Namen. Wenn Opferkollektive ihre Auserwählten umringten und überwältigten, so übertönten und umkreisten sie deren Schreien zugleich durch […] das Namenstremolo. Mit dessen Dehnung und Ausgestaltung zur Klage begann Musik.“

So begann auch Mahlers eigener Weg als Komponist – nämlich mit der Kantate „Das klagende Lied“. Christoph Türcke durchleuchtet auch sie, die auf dem Märchen „Der singende Knochen“ beruht, der wundersamen Geschichte einer Knochenflöte, die nah angesiedelt ist am Ursprung der Musik. In der Figur des Doppelschlags wird sich, laut Türcke, in Mahlers späteren Werken alle Klage bündeln und zusammenziehen. In seinem Opus 1 erscheint sie noch zu einem ganzen, klagenden Lied ausgedehnt.

Nähe von Mahler zu ältesten Knochenflöten

„Der Spielmann schnitzt den Knochen zur Flöte, setzt an – und bläst ein Lied, das nicht seines ist, sondern ihn mit unwiderstehlich fremder Macht aus der Vergangenheit überkommt“, so Türcke. „Wie weit sind Mahlers atemberaubende Tonlagen von den ältesten Knochenflöten aus der Schwäbischen Alb entfernt, und wie nah sind sie ihnen doch!“

Nur eine Musik, die sich in dem wörtlichen Sinne aufrührerisch zur Vergangenheit verhält, dass sie unerledigtes Altes wieder aufrührt, hat die Kraft für Neues. Unerhört Neues muss nicht zwingend besonders dissonant klingen. Entscheidend ist, dass es „von weit, weit her“ kommt; ob aus versunkener Vergangenheit oder unentdeckter Zukunft ist beim ersten Hören oft kaum entscheidbar.

So auch in Mozarts „Zauberflöte“. Auch in ihr entdeckt Christoph Türcke Rückgriffe auf Uraltes, Ur-Menschliches. Dann etwa, wenn dem Naturburschen Papageno zur Strafe ein Schloss um die Lippen gehängt wird. Der kann daraufhin weder sprechen noch recht singen:

„Dies verhinderte Singen im Andeutungsmodus wirkt ebenso anrührend wie komisch“, erklärt Türcke. Es ist in einen vormenschlichen Zustand zurückversetzt, wo es noch nicht eigentlich Melodie, sondern gerade noch Naturlaut ist, der […] fernste Vergangenheit nachklingen lässt: jene Artikulationsweise, die den Hominiden einst durch aufrechten Gang und abgesenkten Kehlkopf zuteil wurde: das Hmmmmm.

Mozart: Die Zauberflöte, K. 620 / Act 1: "Hm! hm! hm!"

Diese Lektüre ist eine lohnende Herausforderung

Überraschende Einsichten wie diese machen die Lektüre dieser „Philosophie der Musik“ zu einem echten, inspirierenden Erlebnis. Wie oft bleibt die Deutung von Musik im enggesteckten Rahmen rein musikgeschichtlicher Erklärungsmuster hängen oder verpufft im Klein-Klein musiktheoretischer Analyse.

Nicht so bei diesem Autor: Noch in einigen herausragenden Beispielen des Jazz, der Rock- und Popmusik erkennt Christoph Türcke Spuren und Strukturen frühester Menschheitsgeschichte und macht damit hellhörig für das, was sich in der Musik geschichtet hat an Jahrtausende alter Geschichte.

Ein monumentales Buch von knapp 500 Seiten Umfang, geschrieben in einer wohltuend eleganten Sprache, die auch immer wieder dem Staunen des Autors Ausdruck verleiht . Das sind keine Selbstverständlichkeiten bei einem Vertreter der akademischen Zunft. Wer Christoph Türckes „Philosophie der Musik“ liest, der nimmt zweifellos eine Herausforderung an, wird aber reich belohnt. Und kommt dem Geheimnis der Musik vielleicht sogar einen kleinen Schritt näher.

Buchkritik Christoph Türcke - Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns

Der Philosoph Christoph Türcke mahnt bei der Transgender-Debatte zu mehr Vorsicht und stichelt hier und da mit geistesgeschichtlichen Argumenten gegen die linke Identitätspolitik.
Rezension von Pascal Fischer.
C. H. Beck Verlag, 233 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-406-75729-7

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