London, Ende der 1990er-Jahre: Die Küche ist klein, die Arbeitsfläche voll. Irgendwo im Hintergrund läuft Blur, oder etwas, das nach Britpop klingt. Jamie Oliver steht am Herd, schüttet großzügig Olivenöl in die Pfanne – viel zu viel, eigentlich. Es zischt, spritzt, Flecken landen auf der Arbeitsplatte, auf seinem Karohemd. Er wischt nicht nach.
Mit bloßen Händen zerrupft Oliver Kräuter und zerquetscht Zitronen, dabei redet er ununterbrochen. Die Kamera ist nah dran, folgt ihm durch das kreative Chaos. „The Naked Chef“ wird zum Erfolg bei der BBC und zur Revolution des Kochfernsehens.

Alltagsinszenierungen jenseits der Perfektion
Bevor Jamie Oliver auftrat, war Kochen im Fernsehen eine saubere Angelegenheit: Studioküchen glänzten, Zutaten lagen grammgenau vorbereitet in Glasschälchen bereit. Die Figur des Fernsehkochs war autoritär und kompetent, aber selten inspirierend.
Jamie Oliver brach mit diesem Bild und stellte ungewollt infrage, warum Kochen je so distanziert inszeniert worden war.
Kochen als Lifestyle
Olivers Erfolg ist eng mit einem gesellschaftlichen Wandel verknüpft: Ende der Neunziger war in Großbritannien gerade New Labour an der Macht, Cool Britannia das Kulturlabel, das die Insel durchwehte. Kochen wurde zu einem Ausdruck des Lifestyles. Weg von der reinen Versorgung, hin zum zelebrierten Alltag.
Doch Oliver kochte nicht nur, er vermittelte ein Gefühl von Zugehörigkeit, das nicht auf reinem Fachwissen basierte, sondern auf der Lust am Tun.

Der kumpelhafte Fernsehkoch Jamie Oliver als Medienidentität
Nicht allen schmeckte das. Wenn Oliver Zutaten wie selbstverständlich auf den Boden fallen ließ oder sie gar mit seinem Ärmel wegwischte, wirkte das für viele wie ein Affront gegen die Kochkunst. Für den gemeinen Zuschauer dagegen wirkte das befreiend.
In einem Land, in dem Kulinarik lange eng mit sozialer Klasse verknüpft war, machte Oliver das Kochen zu einem Ort, an dem Herkunft plötzlich nebensächlich schien. Seine frühe Fernsehrolle lässt sich lesen als bewusste Absage an das elitäre Ritual, das Essen bis dahin oft umgab.

So ungekünstelt Jamie Oliver auch wirkte – die Rolle des nahbaren Selfmade-Kochs war früh Teil einer sehr professionell aufgebauten Medienidentität. Das Küchenchaos war authentisch, aber nicht zufällig.
Die Figur Jamie Oliver bewegte sich mit zunehmendem Erfolg zwischen Identifikationsfläche und Marketingmaschine, und nicht immer war klar, wo der Mensch aufhörte und das Label begann.
Ein Gegenbild zur Haute Cuisine
Denn Jamie Oliver verstand früh, dass sich über Essen soziale Fragen verhandeln lassen. Seine Nähe zur Working Class, sein DIY-Ethos, seine entspannte Sprache: All das machte ihn zum fleischgewordenen Gegenbild zur Haute Cuisine.
Ähnlich wie Anthony Bourdain in den Vereinigten Staaten oder Tim Mälzer in Deutschland wurde er zur Identifikationsfigur einer neuen Generation von Fernsehköchen: kumpelhaft, urban, und immer mit einem Fuß in der Popkultur.

Erfolgreichster Kochbuchautor der Welt
Dabei war er auch ein feiner Seismograf für gesellschaftliche Stimmungen. Seine Bücher und Sendungen entwickelten sich mit den Debatten: vom schnellen After-Work-Essen („Jamie's 15 Minuten Küche“) zur Familienküche, von italienischen Klassikern zu fleischlosen Rezepten mit ökologischem Bewusstsein. Immer mit der gleichen Haltung: Essen ist politisch, aber nicht dogmatisch.
Seine Kochbücher machten ihn zum erfolgreichsten Kochbuchautoren der Welt. Ihre Sprache, nah am Mündlichen, wurde zum Markenzeichen, genauso wie die Fotos fernab des Hochglanzes.

Immer wieder scheiterte Jamie Oliver
Doch nicht alles, was Jamie Oliver anrührte, wurde zum Erfolg. Seine Restaurantkette „Jamie’s Italian“, einst als demokratische Antwort auf Fine Dining gefeiert, ging 2019 pleite – ein wirtschaftlicher und symbolischer Einbruch. Zu viele Filialen und zu wenig Substanz, so die Kritik.
Auch als politischer Akteur war er nicht immer unumstritten: Seine Kampagnen für gesünderes Schulessen oder gegen Zuckerüberschuss wurden mal als vorbildlich, mal als bevormundend eingeordnet.
Für viele blieb der einstige Straßenkoch greifbar. Andere sahen in ihm zunehmend eine moralische Instanz, die sich mit wachsendem Sendungsbewusstsein von ihrer Zielgruppe entfernte.

Jamie Olivers Standing als bekanntester Koch der Welt liegt nicht nur in seinen Sendungen, sondern in der Art, wie er Kochen neu kodiert hat: als Praxis zwischen Alltag, Verantwortung und Genuss.
Zwischen Anti-Elite-Attitüde und Markenmaschinerie
Jamie Oliver hat das Kochen entmystifiziert und dabei en passant eine Figur geschaffen, die größer wurde als ihre Rezepte. Er brachte Haltung auf den Bildschirm, lange bevor das zum Konzept für Köch*innen in den sozialen Medien wurde, und verankerte die Küche im Hier und Jetzt der Gesellschaft.

Im schnelllebigen Medienzeitalter inszenierte sich Jamie Oliver als gesellschaftlich engagierter Kulturvermittler. Doch je mehr er erreichen wollte, desto sichtbarer wurden auch die Brüche: die Ambivalenz zwischen Anti-Elite-Attitüde und Markenmaschinerie, zwischen Aktivismus und Moralinschwere.
Sein größter Einfluss liegt aber vielleicht gerade darin: Das Kochen aus seiner Nische ins allgemeine Interesse zu bringen – mitsamt all der Widersprüche, die dazugehören.