Zu freizügige Kleider?

Kleiderordnung bei den Filmfestspielen in Cannes: Bloß anständig

Stand

Von Autor/in Caroline O. Jebens

Auf dem Roten Teppich der 78. Internationalen Filmfestspiele von Cannes wurden kurzfristig Nacktheit und lange Schleppen untersagt. Dass schließlich doch einige mit ausschweifenden Kleidern erschienen, störte niemanden. Was wollte man mit dem neuen Dresscode eigentlich bezwecken?

Einen Tag vor der Eröffnungszeremonie der 78. Filmfestspiele von Cannes überraschten die Veranstalter ihre Gäste mit einem neuen Dresscode: Abendgarderobe sei wie immer obligatorisch, aber „aus Anstandsgründen“ seien ab sofort Nacktheit auf dem Roten Teppich sowie auf dem gesamten Festival nicht erlaubt. 

Auch „voluminöse Kleidungsstücke, insbesondere solche mit großer Schleppe“ seien nicht mehr gestattet – sie hielten den Verkehr auf dem Teppich vor dem Grand Théâtre Lumière auf, auf dem sich Stars und Filmschaffende fotografieren lassen. 

Wer sich nicht daran halte, dem werde der Zugang verweigert. Während die Schauspielerin Halle Berry pflichtbewusst einen Gardorbenwechsel vornahm, erschienen ihre Kollegin Wan Qian Hui und die Moderatorin Heidi Klum in voluminösen Kleidern mit meterlangen Schleppen. Auch das Model Isabeli Fontana, die Influencerin Hofit Golan und die Schauspielerin Eva Longoria durften mit Schleppe auf den Teppich. 

Die amerikanische Schauspielerin Julia Garner bei der Eröffnung der Filmfestspiele von Cannes
Spiel mit dem Erlaubten? Die amerikanische Schauspielerin Julia Garner bei der Eröffnung der Filmfestspiele von Cannes, 2025.

Trend zum „Nude Dresses“

In einem sogenannten „Nude Dress“, einem Kleid, das durch dünne oder knapp geschnittene Stoffe Nacktheit suggeriert, war aber tatsächlich niemand zu sehen. Allein die Schauspielerin Julia Garner schien mit ihrer Kleiderwahl das Spiel mit dem Blick auf den Frauenkörper entlarven zu wollen: Ihr Kleid bestand aus schwarzem Tüll mit kurzer Schleppe, darunter ein hautfarben-glänzender Stoff – man musste schon zweimal hinsehen, um sicher zu sein, ob sie ein Unterkleid trug.

In den vergangenen Jahren sind sogenannte „Nude Dresses“, oder „Naked Dresses“ häufig auf Premieren und Galas zu sehen gewesen: Mal war die Unterwäsche, manchmal Oberschenkel, manchmal Brüste oder der Po zu sehen, und manchmal alles auf einmal.

Die extremste Form trug zuletzt die (Noch-)Ehefrau des Rapper Ye, Bianca Censori, bei den Grammy Awards: Sie erschien allein mit einem durchsichtigen, kurzen Stück Stoff bedeckt. 

Bella Hadid posiert in Cannes in einem Haute Couture Kleid
Dass Eleganz und Nacktheit kein Widerspruch sein müssen, zeigte das Model Bella Hadid in Cannes 2021. Bild in Detailansicht öffnen
Cicciolina in Cannes 1988.
Frühe Provokation: Cicciolina in Cannes 1988. Bild in Detailansicht öffnen
Milla Jovovich 1997 in Cannes, umringt von Filmschaffenden und Publikum
Für Männer und Frauen herrschen andere Standards, was als angemessen gilt: Milla Jovovich 1997 in Cannes. Bild in Detailansicht öffnen
Die Schauspielerin Kristen Stewart 2018 in Cannes.
Hohe Schuhe für lange Beine obligatorisch? Die Schauspielerin Kristen Stewart 2018 in Cannes. Bild in Detailansicht öffnen

Cicciolina, Milla Jovovich, Melanie Thierry

Sicherlich befürchtete man in Cannes, auch solch ein „Kleid“ auf dem Teppich zu sehen. Einiges an Nacktheit gab es dabei bereits an der Croisette:

1988 provozierte die Kunstfigur und Politikerin Cicciolina (bürgerlich Ilona Staller) barbusig mit Kuscheltier, 1997 erschien die Schauspielerin Victoria Abril ohne Hose und rückenfrei; und im selben Jahr kam Milla Jovovich zur Premiere von „Das fünfte Element“ in einem Kleid, das eher einem goldenen Dessous glich – sie aber immerhin noch mehr bedeckte als das Kostüm im Klassiker von Luc Besson, in dem sie die Hauptrolle spielte. 

Der Wunsch nach Eleganz und Anstand lässt Raum zur Interpretation. Ob man der französischen Schauspielerin Melanie Thierry, die 2021 als Jurypräsidentin für die Camera d’Or diente, heute ihr weißes, durchsichtiges Kleid verbieten würde?

Jeanne Cherhal, Melanie Thierry, Mathieu Amalric und Jean-Marie Larrieu bei der Vorführung von „Tralala“ im Rahmen der 74. Internationalen Filmfestspiele von Cannes in Cannes, Frankreich, am 13. Juli 2021.
Jeanne Cherhal, Melanie Thierry, Mathieu Amalric und Jean-Marie Larrieu (v.l.n.r.) bei der Vorführung von „Tralala“ im Rahmen der 74. Internationalen Filmfestspiele von Cannes in Cannes, Frankreich, am 13. Juli 2021.

Roter Teppich als Marketingtool der Unterhaltungsbranche

Der Rote Teppich ist seit damals längst zu einem wichtigen Marketingtool der Unterhaltungsbranche geworden. Neben Filmschaffenden sind Models und heute Influencerinnern daher gern in Cannes gesehen. Ein quid pro quo zwischen Filmbranche und sozialen Medien: Schöne, junge Frauen zieren die Premieren und Partys, und sie selbst können sich durch die Anwesenheit beim wichtigsten Filmfestival Europas aufwerten. 

Dass die Veranstalter sich dazu genötigt sahen, die neue KIeiderordnung einzuführen, könnte auch daran liegen, dass man nicht möchte, dass Frauen aus dem weiteren Unterhaltungsorbit zu sehr von ihrem Auftritt profitieren.

Das zeigte sich vergangenes Jahr im Umgang mit weiblichen Stars: Die Sicherheitsfrauen schoben allzu grob nicht-weiße Prominente wie die dominikanische TV-Persönlichkeit Massiel Taveras, der K-Popstar Yoona (beide mit langen Schleppen) und Popsängerin Kelly Rowland weiter. 

Heidi Klum auf dem roten Teppich bei der Eröffnungsfeier und der Vorführung von „Partir Un Jour“ (Leave One Day) bei den 78. jährlichen Filmfestspielen von Cannes im Palais des Festivals am 13. Mai 2025
Heidi Klum auf dem roten Teppich bei der Eröffnungsfeier und der Vorführung von „Partir Un Jour“ (Leave One Day) bei den 78. jährlichen Filmfestspielen von Cannes im Palais des Festivals am 13. Mai 2025

Nichts verändert seit „Free The Nipple“?

Dass möglichst freizügige Kleider als Abkürzung in der Aufmerksamkeitsökonomie dienen, ist dabei offensichtlich. Am erfolgreichsten nutzte diesen Umstand das amerikanische Model Bella Hadid für sich, die kurz nach ihrem ersten Roten-Teppich-Auftritt in Cannes große Verträge mit Dior und Givenchy an Land zog.

Seitdem kehrte sie immer wieder in gewagten Kleidern zurück: elegant in Schiaparelli mit goldener Kette vor der Brust, oder unaufgeregt in knielangem Yves-Saint-Laurent-Kleid, unter dem sie keinen BH trug.

Das erregte Aufsehen und brachte gleichzeitig die Frage auf, warum die Ansicht weiblicher Brüste immer noch so skandalisiert werden kann – zumindest, wenn die Frau, zu der sie gehören, sich selbst entscheidet, sie zur Schau zu tragen. Seit der „Free The Nipple“-Kampagne („Befreit die Brustwarze“) von 2012, die die Doppelmoral von Nacktheit gegenüber Frauen und Männern anprangerte, scheint sich nicht allzu viel verändert zu haben. 

Als die britische Schauspielerin Florence Pugh bei einer Mailänder Modewoche in einem Kleid erschien, dessen Oberteil durchsichtig war, ergoss sich Welle misogyner Kommentare über sie im Netz. Sie reagierte mit Unverständnis: Die Welt könnte ein einfacherer Ort sein, wenn man erwachsen werden wolle und wegen „zwei süßen kleinen Brustwarzen“ nicht aus der Haut fahre. 

Der Regisseur mit Quentin Tarantino mit seiner Ehefrau Daniella in Cannes.
Wie nackt darf es sein? Und wer bestimmt darüber? Der Regisseur Quentin Tarantino mit seiner Ehefrau Daniella in Cannes.

Glamour, Dekadenz, Luxus – und ein gewisses Frauenbild

Ob Anstand das entscheidende Merkmal an der Croisette sein sollte, ist ohnehin fraglich. Auch, weil die französische Riviera für Glamour, Dekadenz und Luxus steht – und ein gewisses Frauenbild forciert. Erst vor zehn Jahren wurde die Regel aufgehoben, dass Frauen beim Festival hohen Schuhe tragen müssen.

Dass solch eine Feminität dennoch erwartet werde, zeigte die amerikanische Schauspielerin Kristen Stewart, als sie 2018 demonstrativ ihre Louboutins auszog und barfuß ging. Seither haben auch ihre Kolleginnen Julia Roberts (barfuß) und Jennifer Lawrence (Flipflops!) rebelliert. 

Dass dieses Jahr ausgerechnet lange Schleppen zur kleinen Rebellion wurden, ist da etwas ironisch. Abgewiesen wurden die Frauen jedenfalls nicht. Vielleicht haben die Sicherheitsleute den meterlangen Stoff nicht gesehen. Wer weiß, vielleicht sehen sie kommendes Jahr auch nicht so genau hin, wie durchsichtig er sein könnte.

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Caroline O. Jebens