Seit Donnerstag läuft ein Prozess gegen zwei Mitarbeiterinnen des Reutlinger Kreisjugendamts vor dem Amtsgericht Reutlingen. Die Tübinger Staatsanwaltschaft beschuldigt die beiden Frauen, ihre Fürsorgepflicht verletzt zu haben. In dem Fall geht es um ein Geschwisterpaar, das verwahrlost in Obhut genommen worden war.
Das Jugendamt hatte die Familie drei Jahre lang betreut. Dann kündigte die Mutter der Kinder die Hilfe auf. Zehn Monate später, im Jahr 2022, wurde sie wegen Diebstahls verhaftet. Erst dadurch kamen die desolaten Zustände, in denen die Kinder lebten, ans Licht. Die Kinder wurden zunächst in einer Pflegefamilie, später in einer Wohngruppe untergebracht. Hätte das Jugendamt früher einschreiten müssen? Damit beschäftigt sich jetzt das Gericht.
Kinder erlebten Gewalt und Hunger
Der Junge, heute sechs Jahre alt, hatte einen Gehörschaden wegen einer Perle, die monatelang unentdeckt in seinem Ohr steckte. Beide Kinder hatten massive Karies. Später wurde bei ihnen Krätze diagnostiziert. Die Kinder erlebten "Gewalt und Hunger", waren emotional verwahrlost und "gesundheitlich massiv vernachlässigt", so die Staatsanwältin in ihrer Anklage. Oft waren die Kinder sich selbst überlassen.
Dabei hatte das Jugendamt die Familie noch bis 2021 betreut. Ein freier Sozialträger leistete von 2018 bis 2021 freiwillige Hilfe zur Erziehung. Bis zu dreimal in der Woche schaute ein 77-jähriger Familienhelfer bei der Familie vorbei. Er sortierte die Papiere der Mutter und brachte die Kinder in den Kindergarten. Warum wurde die freiwillige Hilfe im Jahr 2021 beendet?
Mutter wegen Kindesmisshandlung verurteilt
Die Mutter ist in Sachen Kindeswohlgefährdung keine Unbekannte: 2014 entzog ihr das Oberlandesgericht Stuttgart das Sorgerecht für ihre vier älteren Kinder. Im Jahr 2024 wurde sie wegen der Kindesmisshandlung ihrer beiden jüngeren Kinder zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt.
Schläge, Züchtigungen oder die kaputten Zähne der Kinder waren ihnen nicht bekannt, ließen die beiden Sachbearbeiterinnen des Jugendamts zu Beginn der Verhandlung in einer Erklärung verlesen. Die beiden Frauen waren nacheinander für die Familie zuständig. Sie hätten vom Sozialträger zu keiner Zeit Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung bekommen. Alle sechs Monate habe es Besprechungen zwischen dem Träger und dem Jugendamt gegeben. Vor Ort war eine der Mitarbeiterinnen zu Beginn der Betreuung, die andere gar nicht.
Manches sei grenzwertig gewesen, sagte der Familienhelfer vor Gericht. Er ist Mitarbeiter des Hilfeträgers, der die Betreuung der Familie übernahm. Die Wohnung sei chaotisch gewesen. Auch der Kontakt mit der Mutter, die er als psychisch krank einschätzt, gestaltete sich schwierig. Zeichen von Verwahrlosung habe es aber nicht gegeben. "Eine unmittelbare Kindeswohlgefährdung konnte ich nicht erkennen", so der Sozialpädagoge.

Warum wurde die Familienhilfe eingestellt?
Allerdings schrieb er in einem Bericht, etwa einen Monat bevor die Mutter die freiwillige Familienhilfe beendete, die Familiensituation sei "belasteter" als zuvor. Sobald das Mädchen in die Schule komme, werde das System zusammenbrechen. Warum die Hilfe zu diesem Zeitpunkt dennoch einvernehmlich beendet wurde, ist die Frage, die das Gericht an diesem ersten Verhandlungstermin wohl am häufigsten stellte.
"Sie wollte die Hilfe nicht mehr haben. Und dann muss man sagen: Wir machen jetzt einen Punkt", sagte die Vorgesetzte des Sozialträgers. Die Familie sei immer ein Grenzfall gewesen. "Ich wusste, dass es irgendwann einen Knall gibt". Der Sozialträger habe aber nicht genügend Anzeichen oder Beweise gehabt, um zu sagen: "Das ist jetzt gefährdend für die Kinder."
Nach Beendigung der Hilfe gingen das Jugendamt als auch der zuständige Sozialdienst offenbar davon aus, dass der Kindergarten sich bei einer Verschärfung der Lage melden würde: "Die Kinder waren im Kindergarten. Da war ein Sozialsystem, das gemeldet hätte, wenn etwas gewesen wäre", sagte die Vorgesetzte des Sozialträgers.
Landratsamt: "Spannungsfeld aus Unterstützung und Kontrolle"
Das Landratsamt Reutlingen äußert sich während des laufenden Verfahrens nicht konkret zu dem Fall, weist aber in einer Mitteilung auf das besondere Spannungsfeld zwischen Unterstützung und Kontrolle hin, das die Arbeit des Jugendamts präge. "Es kann daher leider in Einzelfällen selbst dann zu einer Kindeswohlgefährdung kommen, wenn alle rechtlichen Vorgaben und alle internen Standards mit größter Sorgfalt eingehalten wurden."
Die Verhandlungen werden an zwei weiteren Terminen fortgeführt. Dann soll es etwa darum gehen, wie Entscheidungen im Jugendamt zur Beendigung von Hilfsmaßnahmen genau gefällt werden und wie Verantwortlichkeiten verteilt sind.