Ich hatte an dem Morgen den Anruf bekommen und es hieß schon so: 'Sissy, kannst Du Dich mal hinsetzen'. Und ich wusste, ich hab es in mir drin gespürt, dass es nichts mit meinen Großeltern ist, dass es nicht darum geht, dass jemand bei denen zu Hause eingebrochen hat oder dass der Hund gestorben ist. Sondern ich wusste, dass es um meinen Papa geht.
Völlig unerwartet wird Sissy Hertnecks Vater herausgerissen aus einem Leben, das prall war: viele Ideen, Träume, Pläne und eine kleine Firma, die Fußbodenheizungen herstellt. Im Testament hatte der Vater Sissy zur Alleinerbin bestimmt und katapultiert sie damit über Nacht in seine viel zu großen Fußstapfen.
Schwere Last: Als Alleinerbin unvorbereitet Firmenchefin
Sissy hat keine Ahnung von Bilanzen und noch weniger von Baustellen, auf denen sie sich jetzt um die Belange der Firma kümmern muss. Sie studiert, möchte Journalistin werden und will eigentlich nur eines: ihren Vater wieder haben, einfach noch ein klein wenig länger Tochter sein!
Als Tochter kann ich das sagen, dass mein Papa ein toller Mann war. Keiner stand mehr im Leben als er. Da war schon so eine ganz große Bereitschaft da, das Leben zu genießen und das finde ich so was Schönes und Besonderes: einfach zu schauen, was das Leben so bringen kann.

Letzte Ruhestätte für den geliebten Vater: Baumgrab als Besinnungsort
In Leinfelden-Echterdingen bei Stuttgart hatte Sissys Vater seinen Betrieb. Nur wenige Meter entfernt liegt jetzt auch seine Asche - in einem Baumgrab auf dem Friedhof, zwischen den Wurzeln einer alten Eiche. In einer Urne, die Sissy selbst bemalt hat.
Ich find' schon diesen Gedanken schön, dass da noch Leben auf dem Grab von Papa ist. Und es ist auch toll zu sehen, wie sich dieses Grab über die Jahreszeiten verändert. Dieser Baum, das ist quasi der größte Grabstein, den er bekommen konnte.
Sissy klopft mit der flachen Hand auf die Baumrinde. Ganz sanft. Und irgendwie zufrieden, dass sie das damals so gut hinbekommen hat: Dass sie in der Hektik, die fast jedes Begräbnis mit sich bringt, kurz mal die Zeit angehalten und gemeinsam mit den Freunden des Vaters diesen wunderbaren Baum gefunden hat.

Von der Tochter zur Chefin: Ein Testament krempelt Sissys Leben um
Sissys Traumberuf ist der Journalismus. Sie macht gerade ein Praktikum beim ZDF in London, als sie vom Tod des Vaters erfährt. Sie fliegt sofort nach Hause, wo ein Testament auf sie wartet. Nach Weihnachten soll es im Betrieb möglichst nahtlos für die Kunden weitergehen. Und plötzlich ist Sissy Chefin, mit 23. Sie beginnt zu zweifeln, ob sie der Aufgabe gewachsen ist.
Ich hab verstanden, was da steht, aber ich hab natürlich noch nicht verstanden, was das bedeutet. [...] So langsam ist mir gedämmert, was da auf mich zukommt. [...] Ich hatte so Angst, dass ich auch überlegt habe, ob ich dieses Erbe ablehnen soll.
Zerreißprobe: vier Jahre voller Zweifel und großer Aufgaben
Fast vier Jahre lang versucht Sissy, dem letzten Willen ihres Vaters gerecht zu werden. Dabei wird sie, wie im Testament festgelegt, von einem Testamentsvollstrecker betreut. Sie fuchst sich rein ins Geschäft, geht Zahlenkolonnen durch, trotzt Corona und den Lockdowns. Und parallel versucht sie, sich klar zu werden, welcher Weg der Weg ihres Vaters ist und wohin ihr ganz eigener Weg sie führen könnte. Eine dauernde Zerreißprobe, eingebettet in tiefe Trauer.
Am besten bleibst Du dann ganz bei Dir. Deiner inneren Stimme musst Du folgen. Und bloß nicht 'reinreden lassen. Von niemandem.

Seitdem der Vater gestorben ist, hat Sissy immer einen schweren Schlüsselbund bei sich in der Tasche: Haupteingang, Büro, Lagerhalle. Der Schlüsselbund erinnert sie permanent an das Lebenswerk des Vaters.
Traumberuf Journalismus: Selbstbestimmter Neuanfang mit 26
Als Sissy 26 Jahre alt wird, endet die Begleitung durch den Testamentvollstrecker. Sie kann endlich frei entscheiden, über ihre eigene Zukunft und die der Firma: die übergibt sie an einen langjährigen Mitarbeiter. Heute geht Sissy sehr bewusst ihren eigenen Weg, hat ihren Traum vom Journalismus verwirklicht. Sie arbeitet für Radio, Fernsehen und Online - unter anderem beim SWR. Zu Fußbodenheizungen wird sie wahrscheinlich nie eine richtig große Liebe aufbauen.
Mein Traum, Journalistin zu werden, hat mich, glaub' ich, teilweise gerettet. Das war mein Ziel, das war noch was, was ich aus meinem alten Leben kannte. Und es war was, was ich auch nicht aufgegeben habe.
Die Trauer um den zu früh verlorenen Vater wandelt sich. Aber die Sehnsucht, noch einmal mit ihm sorglos am Tisch sitzen zu können oder am Meer - die bleibt.
