Bei fast der Hälfte aller Männer über 50 Jahren verändert sich mit der Zeit die Prostata: Bei manchen kommt es einfach nur zu einer gutartigen Vergrößerung – bei anderen entwickelt sich ein Tumor. Die Diagnose ist immer ein Schock, aber nur bei einigen Betroffenen ist der Krebs hochaggressiv.
Häufig finden sich auch Tumore in der Prostata, die so langsam wachsen, dass sie als ungefährlich gelten. Je nach Tumortyp müssen Ärztinnen und Ärzte anders vorgehen. Die jeweils beste Strategie steht in einer sogenannten Leitlinie.
Ende April hat die Deutsche Gesellschaft Urologie eine neue Leitlinie zum Prostatakarzinom (Konsultationsfassung) vorgestellt. Die endgültige Fassung wird in einigen Wochen erwartet.
Bei den Empfehlungen zu Therapie und Prostatakrebsvorsorge hat sich Entscheidendes geändert.
Lässt sich mit einer Tastuntersuchung Krebs in der Prostata frühzeitig erkennen? Nein, sagt die neue Leitlinie und stützt sich dabei auf neuere Studien. Millionen Männer haben sich damit wohl jahrelang in falscher Sicherheit gewiegt. Inzwischen ist klar: beim Abtasten fallen nur größere, schon fortgeschrittene Tumore auf. Der Bluttest auf PSA – das prostataspezifische Antigen – schlägt früher an, führt aber immer wieder auch zu Fehlalarmen.
Prof. Marc-Oliver Grimm, Ärztlicher Direktor der Urologischen Uniklinik Jena und Koordinator der neuen Leitlinie: "Wir empfehlen jetzt in der Leitlinie ein abgestuftes Früherkennungsprogramm, was mit dem PSA-Wert als Einstiegstest beginnt. Und wenn der PSA-Wert über 3 ist, dann soll eine Risikoeinschätzung erfolgen.“
Wenn in der Familie gehäuft Prostatakrebs auftritt, ist das eigene Risiko größer; außerdem spielt die Größe der Prostata bei erhöhtem PSA-Wert eine Schlüsselrolle: Es gehe dabei vor allem um die Volumenbestimmung der Prostata, erklärt Grimm. Bei einem PSA-Wert von 3 und einer sehr großen Drüse produziere diese auch viel PSA, wodurch die PSA-Dichte gering sei. Bei einer sehr kleinen Drüse und einem PSA von 3 habe dies eine ganz andere Relevanz.

Differenzierte Therapie statt Standardbehandlung beim Prostatakarzinom
Grundsätzlich können auch Entzündungen, manche Medikamente oder Druck auf die Prostata den PSA-Wert erhöhen. Wenn sich der Verdacht auf einen Tumor erhärtet, sollte laut Marc-Oliver Grimm der nächste Schritt erfolgen: eine Kernspin-Untersuchung, also ein MRT:
"Das Problem beim Prostatakarzinom ist ja, dass wir einmal einen Haustierkrebs – der hat eine sehr geringe Aggressivität, der wächst lokal, aber der metastasiert nicht, der wächst sehr langsam.” Viele Männer würden daher nicht an einem Prostatakarzinom sterben, sondern damit, erklärt Grimm. Es gäbe auf der anderen Seite aber auch einen aggressiven "Raubtierkrebs". Das MRT helfe dabei, diese Formen gut zu differenzieren.
Wenn sich der Tumor dann als wenig aggressiv herausstellt, soll er erstmal gar nicht behandelt werden. Engmaschig überwachen reicht – das ist eine entscheidende Änderung zur bisherigen Empfehlung. Bisher sollten Patienten mit langsam wachsenden Tumoren auch eine Operation und Bestrahlung als Behandlungsoptionen angeboten werden:
"Das erfordert auch ein Umdenken, auch bei den Ärzten. Aber es ist eben unsere Aufgabe als Ärzte, dass wir die Patienten da mitnehmen.”, so Grimm. Der Urologe verweist auf eine große Studie aus England, die gezeigt habe, dass die Sterberate nach 15 Jahren gleich sei, ob die Patienten anfänglich überwacht, operiert oder bestrahlt würden – Voraussetzung sei aber, dass es sich um ein Niedrigrisiko-Prostatakarzinom handle.

Entscheidung über Kostenübernahme steht trotz neuer Leitlinie aus
In einigen Wochen wird die neue Leitlinie offiziell verabschiedet. Trotzdem werden die Krankenkassen nicht automatisch für die empfohlenen Untersuchungen zahlen. Darüber muss erst der Gemeinsame Bundesausschuss entscheiden – und dieses Gremium stützt sich auf die Einschätzung des unabhängigen "Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“, kurz IQWIG.
Prof. Stefan Sauerland, Leiter des Ressorts für Nichtmedikamentöse Verfahren am IQWIG, zieht eine gemischte Bilanz aus den neuen Empfehlungen zur Früherkennung: Die neue Leitlinie sei zwar etwas Feineres, was auch für einzelne Situationen besser adaptiert werden könne, erklärt Sauerland. Allerdings bedeute dies auch einen deutlich höheren Aufwand. “Die Urologen sind hier sehr forsch in ihrer Leitlinie und wollen jetzt ein Screening, was eher eine Maximalvariante darstellt.“
Stefan Sauerland sieht unter anderem die Altersgrenzen für ein mögliches Screening, also eine Reihenuntersuchung auf Prostatakrebs, kritisch: Der empfohlene Start schon mit 45 sei sehr früh – und das Ende gar nicht definiert:
"Die Empfehlung ist jetzt erst einmal, bei einer Restlebenserwartung von mindestens zehn Jahren kann man noch weiter screenen. Und das ist etwas, was dann natürlich Tür und Tor öffnet für eine ewige Diagnostik, bis was weiß ich vielleicht 75 oder 80 Jahren. Das macht sicherlich überhaupt keinen Sinn.“

Debatte um flächendeckendes Screening-Programm
Könnte es für Männer in einigen Jahren eine organisierte Krebsfrüherkennung geben, so wie beim Mammographiescreening für Frauen? Führende Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Urologie haben genau das kürzlich im Ärzteblatt gefordert. Und gehen damit viel weiter als die Leitlinie, betont Stefan Sauerland vom IQWIG.
Berufspolitisch passiere es oft, dass die Urologen sich Klientel wünschten und dafür werben würden, dass eigentlich jedermann zu einer Früherkennungsuntersuchung hingehen solle. “Und diese Empfehlung steht so zumindest nicht in der Leitlinie drin, und ich bin auch sehr skeptisch, dass eine solche Forderung sich derzeit umsetzen ließe.“
Der Koordinator der Leitlinie, Marc-Oliver Grimm, sieht dagegen einen dringenden Bedarf: "Die Studien, die man gemacht hat, die legen nahe, dass man eigentlich ein organisiertes Früherkennungsprogramm braucht, sprich also Screening, um die Prostatakrebssterblichkeit wirklich zu senken.“
Laut Stefan Sauerland wird es rund zwei Jahre dauern, bis der Gemeinsame Bundesausschuss sich für oder gegen ein solches Programm entscheidet.