Interview mit Macherin der Studie

Missbrauchsfälle im Bistum Speyer: "Ein Klima, in dem sich jeder austoben konnte"

Stand

Die neue Studie über Missbrauchsfälle im Bistum Speyer zeigt, dass vor allem kirchliche Kinderheime und Internate "Hotspots" des Missbrauchs waren. Die Leiterin der Studie Sylvia Schraut erklärt im Interview, warum.

SWR Aktuell: Frau Professor Schraut, wie konnten die Kinderheime im Bistum Speyer zu Hotspots von Missbrauch und Gewalt werden?

Sylvia Schraut: Grundsätzlich muss man sagen, dass es in dieser Zeit - in den 1950ern, 60ern und frühen 70er-Jahren - eigentlich in allen Kinderheimen viel Machtmissbrauch, zum Teil auch sexuellen Missbrauch gab. Aber natürlich ist die Fallhöhe in kirchlichen Heimen besonders hoch. Wenn ein Kind aus einem Heim damals zum Jugendamt gegangen ist und sagte, was passiert ist, dann hat es eine Ohrfeige gekriegt und ist zurückgeschickt worden. Wir hatten eine Zeit, in der Machtmissbrauch und Gewalt vollkommen legitim waren und auch Kinder zu demütigen. Und bei mangelnder Kontrolle, wie es im Bistum Speyer der Fall gewesen ist, entsteht ein Klima, in dem sich jeder austoben kann, der sich austoben will.

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SWR Aktuell: Was führte dazu, dass Missbrauch nicht geahndet oder sogar vertuscht wurde?

Schraut: Es gibt viele Faktoren. Einmal die mangelnde Kontrolle. Dann eine Sexualmoral, die es unmöglich machte, über die Themen überhaupt zu reden. Welches Kind konnte denn schon etwas zu Pfarrern oder Eltern über Sexualität sagen? Die Mechanismen, die es heute in der Organisation des Ordinariats gibt, um solchen Themen gerecht zu werden, griffen noch nicht. Und, was ich auch als wichtigen Faktor sehe, ist die große Zahl nicht sesshafter Priester und Ordensleute, die nur eine Zeit lang im Bistum blieben, nicht kontrolliert wurden und einen entsprechend großen Freiraum hatten.

SWR Aktuell: Wie wirken sich unklare Zuständigkeiten, fehlende Kontrollmechanismen aus – etwa zwischen Bistum und Orden?

Schraut: Die Heime haben ein starkes Eigenleben. Ein Heim, das von einem Orden geführt wird, fühlt sich überhaupt nicht verpflichtet, irgendwelche Aktenunterlagen oder Sonstiges dem Bistum zu übergeben, da der Orden nur an päpstliches Recht gebunden ist. Das ist auch heute noch ein Problem. Und in Phasen, in denen Missbrauch so weit verbreitet war, wie in den 1950er-, 60er- und Anfang der 70er-Jahre, macht es die Problematik natürlich nochmal deutlich, dass eigentlich gar niemand so richtig zuständig war.

Die Missbrauchsstudie zum Bistum Speyer umfasst mehr als 470 Seiten.
Die Missbrauchsstudie zum Bistum Speyer umfasst 473 Seiten.

SWR Aktuell: Was braucht es aus Ihrer Sicht für eine effektive Prävention von Missbrauch in der Zukunft?

Schraut: Vor allen Dingen Transparenz. Eine offene Umgehensweise vonseiten der Kirche und dem Ordinariat. Eine Überprüfung der Kontrollmechanismen und der eigenen Wege, mit Missbrauchsvorwürfen umzugehen. Es braucht klare Prozessbeschreibungen, klare Anweisungen: "Wer muss informiert werden? Welches Gremium entscheidet dann darüber, was weiter passiert? Wie werden die Entscheidungen transparent gemacht?" Die Regelungen müssen viel besser erarbeitet werden, um sicherzustellen, dass Vorwürfe nicht versickern. Im Bistum Speyer ist der Wille dazu da. Heute gibt es Wege. Wenn etwa eine Missbrauchsmeldung bei der Interventionsbeauftragten im Bistum einläuft, wird automatisch die Staatsanwaltschaft informiert. Aber was ist beispielsweise, wenn ein Pfarrer, der beschuldigt war, in Rente geht und sich in einer ganz anderen Gemeinde niederlässt und dort ein bisschen aushilft? Kann da die Gemeinde informiert werden, dass da ein Verdacht vorliegt? Da kommt der Datenschutz ins Spiel und da wird noch darum gerungen, Lösungen zu finden.

SWR aktuell: Der erste Teil der Missbrauchsstudie beschäftigt sich in erster Linie, wie es dazu kommen konnte. Bis 2027 soll ein zweiter Teil der Studie entstehen, der sich dem "Was?"widmet. Was untersuchen Sie darin?

Schraut: Wir greifen typische Fälle auf, beispielsweise die Missbrauchsvorwürfe gegen Nonnen und Mitarbeiter des Kinderheims in der Engelsgasse oder die Vorwürfe gegen Generalvikar Rudolf Motzenbäcker, der ja schon vor Jahren geoutet worden ist. Aber es geht auch um typische Konstellationen in den Gemeinden. Daran wollen wir zeigen, wie komplex der Zusammenhang ist – zwischen Missbrauchsvorwurf, Missbrauchstat und allen Institutionen, die involviert sind. Ein Begriff aus der Nationalsozialismusforschung ist "Bystander" (deutsch: Zuschauer). Damit sind die gemeint, die wegschauen, aber etwas wissen - der eine mehr, der andere weniger. Davon erzählen viele Betroffene. Das kann man sehr gut zeigen. Wir hinterfragen auch die Rolle der Jugendämter. Und wir werden einen Heimleiter nehmen und zeigen, wie – wenn von oben der Kopf stinkt – eine Einrichtung verkommt, im Kontext des Themas sexuelle Gewalt. Da muss man sehr in die Tiefe gehen. Das kann man nicht flächendeckend machen, man kann das nur an Einzelbeispielen vertieft zeigen.

Zur Person: Prof. Sylvia Schraut

Sylvia Schraut war Historikerin an der Universität Mannheim und ist im Ruhestand. Sie leitet das Projekt "Aufarbeitung des Komplexes Sexueller Missbrauch im Bistum Speyer durch katholische Priester, Diakone, Ordensangehörige und Mitarbeiter des Bistums" (ab 1946). Der erste Teil der Studie umfasst 473 Seiten und wurde im Mai 2025 veröffentlicht. Die Universität Mannheim kündigte an, innerhalb des auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekts 2027 einen zweiten Bericht zu veröffentlichen. Darin soll es um konkrete und detaillierte Fallanalysen gehen.

Sie hat die Missbrauchsstudie federführend begleitet: Sylvia Schraut
Sie hat die Missbrauchsstudie federführend begleitet: Sylvia Schraut
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Das Interview führte
Pauline Sachs
Onlinefassung
Panja Schollbach
Panja Schollbach arbeitet als Redakteurin im SWR-Studio Mannheim-Ludwigshafen