SWR1: Was muss unter "Positiven Bildung" verstehen?
Ulrike Lichtinger: Positive Bildung ist ein Ansatz, der weniger Leistung in den Fokus von Schulen stellt als vielmehr das Wohlbefinden aller im System. Es geht nicht nur um Noten, sondern darum, dass Schule ein Ort ist, an dem Menschen wachsen können.
Konzept der "Positiven Bildung" fasst in Deutschland Fuß
Das bedeutet Kinder mit schwierigen Startbedingungen zu unterstützen, die nicht nur Schwächen haben, sondern auch Stärken. Die in den Mittelpunkt zu stellen und zu unterstützen, dass sie sich hier - ausgehend von den Stärken - weiterentwickeln können.
SWR1: Gibt es bereits Schulen in Deutschland, die da anders vorgehen als herkömmliche Schulen?
Lichtinger: Das Konzept der "Positiven Bildung“ hat mittlerweile auch in Deutschland schon ein bisschen Fuß gefasst. Wobei wir sehr viel später dran sind, als das in vor allem englischsprachigen Ländern der Fall ist.
Rheinland-Pfalz war eigentlich eines der ersten Bundesländer, das sich mit diesen Konzepten beschäftigt hat. Und es gibt Schulen, die sich ganz bewusst darauf fokussieren.
ARD-Story: Schulverlierer Abgehängt schon in der Grundschule?
Die Dokumentation begleitet eine erste Klasse für ein Jahr. Kinder kämpfen mit Sprachproblemen, Lehrer und Erzieher verzweifeln am System und Förderkonzepte scheitern immer wieder.
SWR1: Was machen diese Schulen jetzt anders?
Lichtinger: Sie steigen zunächst einmal mit kleinen Dingen ein. Das ist auch das, was die "Positive Bildung" aus unserer Sicht so attraktiv macht. Zum Beispiel ganz bewusst jeden Morgen mit einer "Check in“-Runde zu starten, die eine positive Frage beinhaltet.
"Positive Bildung" soll Stärken der Kinder fördern
Also, "Worauf freust Du Dich heute?“. Oder auch zu gucken, welche Stärken die Kinder eigentlich haben.
Stärken aber nicht im Sinne von Talenten, sondern vielmehr, welche Werte wohnen in ihnen, die zur wertehaltigen Arbeit im Klassenzimmer beitragen können.
Und immer wieder an diese Stärken der Kinder anzuknüpfen. Auch ein Lob in dieser konkreten Sprache, das an die Fähigkeiten anknüpft, macht auch einen großen Unterschied. Zum Beispiel "Du hast heute richtig gut durchgehalten“. Das wäre zum Beispiel so eine Stärke.
SWR1: Wie wirkt sich diese "Positive Bildung“ aus?
Lichtinger: Wir sehen, wenn Schulen sich ganz bewusst und mutig auf die "Positive Bildung“ fokussieren, dann zeigt es einerseits, dass bei den Lehrerinnen und Lehrern und auch bei den Kindern das Wohlbefinden steigt.
Damit meinen wir nicht nur positive Emotionen. Sondern auch Motivation, Engagement, harmonisches Miteinander und vor allem Selbstwirksamkeitserfahrungen.
"Positive Bildung" sorgt für bessere Leistung der Schülerinnen und Schüler
Interessant ist, dass das auch auf die Leistungen rekurriert. Wir haben Studien mit mehreren 1.000 Schülerinnen und Schülern, wo wir sehen, wenn wir "nur“ in Wohlbefinden trainieren, die Leistungen sich um bis zu einem Schuljahr von denen unterscheiden, die das nicht tun.
SWR1: Von der Leistung hängt auch der weitere schulische Weg ab. Was halten Sie von gymnasialen Schulempfehlungen?
Lichtinger: Da sind wir bei der Frage der strukturellen Aspekte. Das ist aus meiner Sicht sehr schwierig. Wir verlangen viel von Lehrerinnen und Lehrern und eigentlich sind die unglaublich engagiert. Aber letztendlich auch ein bisschen begrenzt. Deshalb brauchen wir eine strukturelle Aufwertung von Haltung im System.
Skandinavien ist Vorbild bei der Bildung
Und nicht ein frühes Aufteilen von Kindern in verschiedene Schulwege. Das sehen wir auch in Skandinavien, dass das eigentlich gar nicht notwendig ist, sondern eine andere Form vom Miteinander viel zielführender ist.
SWR1: Muss hier das Land voranschreiten? Wer ist dafür zuständig? Oder können die Schulen selbst sagen, wir wollen diese positive Seite mehr fördern?
Lichtinger: Ich würde sagen, beide. Lehrerinnen und Lehrer sind vielfach schon engagiert. Und das macht schon Sinn, stärker auf diese Maßnahmen zu gucken, die letztendlich dann auch empirisch wirksam sind.
"Positive Bildung" bedeutet: kleine Ziele stecken
Wenn man zum Beispiel sagt: "Heute versuchst du drei Sätze allein zu schreiben. Ich bin gespannt, wie Du das schaffst. Und wir gucken dann am Ende, ob das gelungen ist.“ Dann ist es für das Kind, wenn es gelungen ist, ein echtes Erkennen "Ich war wirksam an dem Tag“. Das ist die Lehrerinnen- und Lehrer-Ebene.
PISA-Chef: Wohlbefinden muss stärker in den Fokus
Aber wenn wir strukturell begrenzt sind, einfach dadurch, dass Noten und Leistung im Vordergrund stehen, dann wird es sehr schwierig. Da braucht es dann die Kultusminister, die mutig sagen, uns ist einfach wichtig, dass das Wohlbefinden im Vordergrund steht. Auch der "PISA-Chef“, Andreas Schleicher, spricht mittlerweile davon, dass es durchaus Sinn macht, nicht nur Leistung, sondern auch das Wohlbefinden stärker im Fokus zu haben.
Das Gespräch führte Frank Jenschar.